Zu guter Letzt by St Aubyn Edward

Autor:St Aubyn, Edward [St Aubyn, Edward]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492970426
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2015-05-28T16:00:00+00:00

8

Mary fand, »baldige Rückkehr« gehe ein wenig zu weit. Sie blickte nervös zum Sarg hinüber, als könne Eleanor jeden Moment den Deckel aufstemmen, die Arme ausbreiten und die Welt so theatralisch wie auf dem Foto in der Gottesdienstordnung zu umarmen suchen. Mary spürte Patricks glühende Verlegenheit und bereute, dass sie Annette um eine Ansprache gebeten hatte; andererseits, wer hätte das sonst übernehmen können. Eleanors Sozialleben, das nach dem Prinzip der Brandrodung funktionierte, hatte Kontinuität und tiefe Freundschaften zerstört, vor allem nach den einsamen Jahren der Demenz und der zerbrochenen Beziehung zu Seamus.

Mary hatte Johnny gebeten, ein Gedicht vorzutragen, und vor lauter Verzweiflung hatte sie sogar Erasmus überredet, eine Bibelstelle zu lesen. Nancy, die einzige Alternative, war vor lauter Selbstmitleid am Rande der Hysterie gewesen und hatte nicht genau gewusst, ob sie den weiten Weg aus New York schaffen würde. Die reichlich forcierte Wahl der Vortragenden wurde dadurch ausgeglichen (oder noch verschlimmert), dass die ausgewählten Textpassagen sehr bekannt waren. Als Nächstes standen zwei klassische Bibelstellen an, und auf einmal fand sie diese Entscheidung unerträglich öde. Andererseits wusste niemand etwas über den Tod, außer, dass er unvermeidlich war, und da diese ungewisse Gewissheit jedermann verängstigte, berief man sich besser auf die undurchdringliche Herrlichkeit der Bibel oder die nebulösen asiatischen Unermesslichkeiten, die Annette offenbar bevorzugte, als bemüht neue Texte vorzustellen. Außerdem war Eleanor, unter all den anderen Möglichkeiten, ja auch Christin gewesen.

Sobald Annette sich wieder gesetzt hatte, würde Mary nach vorn ans Pult treten müssen. Offen gestanden war sie leicht genervt. Sie erhob sich mit einem Widerwillen, der sich raffiniert als Gefühl unerträglicher Ungeduld tarnte, zwängte sich an Patrick vorbei, ohne ihn anzusehen, und schritt zur Kanzel. Wenn sie anderen gegenüber erwähnte, wie nervös jede Art von öffentlichem Auftritt sie machte, erhielt sie unglaublich nervige Ratschläge, wie: »Vergiss nicht zu atmen«. Jetzt wusste sie warum. Erst hatte sie das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen, und dann, als sie den hundertmal geprobten Textabschnitt las, hatte sie auch noch das Gefühl zu ersticken.

Wenn ich mit Menschen und mit Engelszungen redete,

Und hätte der Liebe nicht,

So wär' ich ein tönend Erz,

Oder eine klingende Schelle.

Und wenn ich weissagen könnte,

Und wüßte alle Geheimnisse

Und alle Erkenntnis,

Und hätte allen Glauben, also

Dass ich Berge versetzte,

Und hätte der Liebe nicht,

So wäre ich nichts.

Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe,

Und ließe meinen Leib brennen,

Und hätte der Liebe nicht,

So wäre mir's nichts nütze.

Mary spürte ein Kratzen im Hals, bemühte sich aber fortzufahren, ohne zu husten:

Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe

eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen,

sie blähet sich nicht. Sie stellt sich nicht ungebärdig,

sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern,

sie rechnet das Böse nicht zu. Sie freuet sich nicht

der Ungerechtigkeit; sie freuet sich aber der Wahrheit.

Sie erträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles,

sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf

Mary räusperte sich und drehte den Kopf zur Seite, um zu husten. Jetzt hatte sie es vermasselt. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass zwischen dieser Textstelle und ihrem Hustenanfall ein psychologischer Zusammenhang bestand. Als sie

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